Alkohol – mein Leben mit der Sucht

Wenn wir uns vor sechs oder sieben Jahren getroffen hätten, ich hätte mich im Traum nicht als Alkoholikerin bezeichnet. Bis vor Corona habe ich auf sämtlichen großen Festen gearbeitet, die es in München gibt: Oktoberfest, Münchner Christkindlmarkt, Tollwood-Festival, Kulturstrand oder Wiesnclub … du hättest mich da als Chefin, Betriebsleiterin oder Pächterin erlebt – immer mittendrin, immer am Arbeiten, natürlich auch am Feiern und am Trinken …

Als Kind fühlte ich mich die meiste Zeit einsam. Ich wurde als Baby adoptiert, fühlte mich im Heranwachsen immer anders als alle um mich herum, irgendwie heimatlos, wurzellos, fremd. Hinzu kam, dass ich in einer seltsamen Form von Einsamkeit aufwuchs: Meine Adoptiveltern waren die ganze Zeit anwesend, doch ich fühlte mich nicht gesehen, sondern völlig allein mit meinen Ängsten, Sorgen, Gedanken und Gefühlen. Ich kam mir vor wie eine einsame graue Maus in der Falle – noch dazu eine hässliche Maus: Ich litt unter starker Neurodermitis, fühlte mich ekelhaft und hässlich. Wie bewunderte ich all die hübschen Mädchen in der Schule! Wie gern hätte ich Freundinnen gehabt. Aber da war niemand.

Und dann, mit 14, trank ich mein erstes heimliches Bier: Wow, wie sich das anfühlte! Diese Leichtigkeit, Ruhe, Gelassenheit und Freiheit! Als hätte ich endlich den Schlüssel zu einer anderen, schöneren Welt gefunden. Die Schranktür zu meinem eigenen Narnia. Ich trank heimlich, bis ich 18 war, und mit der Volljährigkeit dann endlich offiziell und in großen Mengen. Ich trank, um lustig, gelassen, cool, wortgewandt und sexy zu sein. Um aus mir rauszukommen, um anzukommen … und, ja, es funktionierte, endlich hatte ich „Freunde“!

Mit 20 hatte ich dann meinen ersten festen Freund und arbeitete auf dem Tollwood-Festival in München an seinem Steckerlfischstand und Jägermeisterbar. Das war der Einstieg ins Gastroleben. Und es gefiel mir: Es war lustig und brachte viel Geld – und ich war gut in meinem Job! Sehr gut! Mir gefiel die Stimmung auf den Festen, die Lockerheit, das Partymachen und selbstverständlich auch das Trinken, obwohl man hart arbeitete. Aus der Mitarbeit bei meinem damaligen Freund wurde schnell mehr. Schon bald war ich gemeinsam mit ihm beruflich selbstständig in der Gastronomie und im Eventbereich. Ich stieg auf, von der Fischverkäuferin und Barfrau zur Souvenirpächterin in Kufflers Weinzelt auf dem Oktoberfest, Toilettenpächterin auch im Weinzelt, Betriebsleitung am Kulturstrand an der Isar, Betriebsleitung im Wiesnclub … Noch dazu führten mein Freund und ich vier Verkaufsstände auf dem Christkindlmarkt am Chinesischen Turm, nebenbei designte ich Trachten und Trachtenschmuck, die wir in großen Mengen produzieren ließen und in unserem Onlineshop verkauften. Außerdem führten wir eine Manufaktur für beschriftete Filzanstecker im Lebkuchenherz-Design, die auf dem Oktoberfest und auch online weltweit in großen Mengen verkauft wurden.

Ich hatte Erfolg und Geld, ich war jemand in der Münchner Szene … Das Leben hatte Fahrt aufgenommen, und aus der unsicheren kleinen Chamila, die sich die meiste Zeit einsam gefühlt hatte, war ein beliebtes Partygirl und eine coole Geschäftsfrau geworden. Der Alkohol war als bester „Freund“ an meiner Seite und half mir, auf der Wiesn und allen anderen Events die toughe Chefin zu sein, meine Rolle zu spielen, den Stress zu meistern. Es lief gut, beides: meine selbstständige Karriere – und der Alkohol in mich hinein.

Natürlich war dieses Leben auch der pure Stress. Doch ich war jung, es lief! Mein Körper hielt durch, ich hielt durch … bis ich 2018 plötzlich kreisrunden Haarausfall bekam! Meine schöne Fassade begann auf einen Schlag zu bröckeln. Das war ein extremer Schock. Meine Haare waren mir heilig gewesen, meine Krone! Lang herabwallend bis zum Hintern, schwarz wie die Nacht. Und plötzlich gingen sie mir aus! Büschelweise! Ich bekam Panik. Hatte ich eine Krankheit? Würde ich eine Glatze bekommen? Wie sollte ich das aushalten? Und was war mit meinen Jobs? Ich musste doch schön aussehen als Chefin!

Um den kreisrunden Haarausfall in den Griff zu bekommen, sollte ich plötzlich Sport machen, im Job kürzertreten, keinen Alkohol mehr trinken … Ich schaffte das. Kurz. Aber dann trank ich wieder, doppelt und dreifach. Ich konnte einfach nicht ohne meinen vermeintlichen „Freund“. Ich war so deprimiert und frustriert, ängstlich, traurig. Tieftraurig. Fühlte mich einer Situation ausgeliefert, die ich nicht lenken konnte. Es gibt keine Heilung bei kreisrundem Haarausfall. Man kann nicht einfach eine Tablette schlucken und: tadaaaaa, die Haare sind wieder da! Um das Problem in den Griff zu bekommen, war es nötig, langsam zu machen, kontrolliert und stressfrei zu leben – aber das war alles nicht meins!

Ich versteckte mich. Mein damaliger Freund kümmerte sich verstärkt um die Geschäfte, ich war viel zu Hause, und trank hier mehr und mehr. Meine Angst wuchs ins Unermessliche, sie wurde immer überwältigender … Ich fühlte mich so unglaublich hässlich und eklig. Da war es wieder, das verzweifelt verdrängte Gefühl meiner Kindheit: Ich war wieder die hässliche graue Maus, von der sich alle angewidert abwanden! Mein Selbstbewusstsein schwand mit jedem Haar, das ausfiel.

Ein Jahr ging das so weiter, ich glitt immer tiefer, trennte mich von meinem damaligen Freund und schmiss alle Jobs hin. Ich zog in eine winzige Kellerwohnung. Dort konnte ich nun immer trinken, von früh bis spät. Nicht mehr nur heimlich, sondern den ganzen Tag. Das musste ich auch, um mich und mein Spiegelbild überhaupt zu ertragen. Alkohol hielt ich damals für das einzige Mittel, das mir helfen konnte.

Ich hatte zwar mittlerweile wieder einen neuen Freund, aber selbst er konnte mich nicht komplett auffangen. Ich wurde schwierig, verbittert. Die Einsamkeit war in mein Leben zurückgekehrt. Nur mein Hund, ein Chihuahua, war an meiner Seite, mein einziger, kleiner, weicher Lichtblick namens Tyson.

Und dann kam Corona. Ich fiel im wahrsten Sinne des Wortes immer mehr auseinander, verlor weiter meine Haare, wurde immer fetter und aufgedunsener, ließ mich gehen und trank, trank, trank … Und dann geschah der Unfall: Ich fuhr mit 120 km/h und 2,64 Promille frontal auf ein anderes Auto. Wie das geschehen konnte? Ich weiß es bis heute nicht. Die Fahrerin im anderen Auto wurde schwer verletzt, ich auch. Ich hatte viele Knochenbrüche erlitten, keine Stelle am Körper, die nicht blau war. Doch das schlimmste war: Mein Hund kam bei diesem Unfall ums Leben. Ich hatte ihn umgebracht! Mein kleines Baby! Ich war schuld! Ich war in der Hölle angekommen.

Nach fünf Tagen entließ ich mich selbst aus dem Krankenhaus. Das wäre der Moment für die „Nie wieder Alkohol!“-Erkenntnis gewesen. Aber es ging nicht, ich konnte mich nun gar nicht mehr ertragen, musste mich weiter betäuben! Ich trank und trank!

Irgendwie schaffte ich es, umzuziehen in eine Wohnung an der Münchner Freiheit. Es war immer noch Corona, und ich saß da in meiner großen Wohnung mit meinen Flaschen. Allein, Tag für Tag. Einsam. Mit meinen dunklen Gedanken. Mittlerweile waren es Suizidgedanken.

Mein Freund wusste damals nicht, wie es mir wirklich ging. Wie zerbrochen ich war. Ich wurde zur besten Schauspielerin und Lügnerin. 

Um der Einsamkeit zu entkommen, holte ich mir zwei neue kleine Chihuahuas, Leo und Keks. Doch nicht mal die beiden kleinen Seelen konnten mich pushen, mein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Ich konnte mich nicht um die beiden kümmern. Ich konnte sie nicht annehmen. Sie ersetzten nun mal nicht meinen toten Hund – natürlich nicht! Und vor lauter schlechtem Gewissen verkroch ich mich weiter in meine Sucht.

Praktischerweise wurden mit Corona eine Menge Lieferdienste ins Leben gerufen, und ich konnte nun meinen Alkohol jeden Tag bestellen und musste noch nicht mal mehr das Haus verlassen. Die leeren Flaschen versteckte ich anfangs noch vor meinem Freund in meiner Wohnung, irgendwann war mir aber auch das egal und zu anstrengend. Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, wie es in meiner Wohnung aussah. Man fühlte sich wie in einem Altglascontainer, aber auch das war mir egal.

Dann kam die Zeit, in der ich mein Bett kaum noch verlassen konnte, so entkräftet war ich inzwischen. Das ging einige Wochen so. Mittlerweile hatte ich auch aufgehört zu essen. Wie ich später lernen sollte, ist das der normale Werdegang eines alkoholsüchtigen Menschen im Endstadium. 

Es war mittlerweile Ende 2021, meine Haare waren fast komplett ausgefallen. Mein Freund rasierte mir deshalb den Kopf.  Da ich nun in meinen Augen den Höhepunkt an Hässlichkeit erreicht hatte, war ich so verunsichert und traurig, dass ich mich an seinem Geburtstag in einem großen Showdown von ihm trennte. Ich war natürlich sturzbetrunken, zerkratzte ihm das komplette Auto … Ich war in meiner Opferrolle angekommen, sie hatte mich fest im Griff. Genauso wie mein spezieller „Freund“ Alkohol. Ich nannte ihn mittlerweile „meine Medizin“. Er war für mich lebensnotwendiger als alles andere geworden.

Und dann kam dieser Tag: Ich lag im Bett, kotzte mal wieder auf den Boden daneben, nahm einen Schluck Jägermeister, der schon parat stand, und sah meine Hunde vorm Bett. Sie lagen auf dem Boden, zwischen all dem Dreck, der Kotze, Decken, Kleidung, Essensresten … und sahen mich an.

Ich spürte, wie sich mein Körper langsam verabschiedete und dachte mir: „Wenn ich jetzt sterbe, was passiert dann mit den beiden? Wer nimmt sie, wohin kommen sie? Werden sie getrennt?“

 

So rief ich meine Cousine an. Sie brachte mich ins Krankenhaus, zur Entgiftung. Ich blieb eine Woche. Danach wurde ich in die Psychiatrie verlegt zur Stabilisierung. Dort blieb ich 16 Tage. In dieser Zeit organisierte ich mir einen Platz in einer Reha für Suchtkranke. Ich konnte sogar meine Hunde mitnehmen!

Ich blieb dort für vier Monate. Es war die härteste, schlimmste Zeit meines Lebens – und gleichzeitig die beste. Ich lernte mich kennen. Ich lernte das Leben kennen. Ohne meinen „Freund“ Alkohol. Ich lernte so viel über mich, ich hatte mich in den letzten 20 Jahren komplett verlernt! Wusste nicht, wer ich wirklich bin. Wer schaute mich da durch den Spiegel an? War das tatsächlich ich? In der Reha hatte ich 13 Kilo abgenommen, doch die größte Veränderung für mich war, dass in den vier Monaten meine Haare wieder zu mir zurückkamen. Sie fingen wieder an zu wachsen! Die kahlen Stellen waren fast alle verschwunden.

Der 24.2.22 war mein zweiter Geburtstag, der Beginn meines Heilungswegs, ohne dass ich irgendetwas über das Ende der Reise wusste. Ich wusste nicht, was auf mich zukommt. Ich wusste nur, ich wollte weg vom Alkohol. Ich wollte ihn nicht mehr in meinem Leben! Ich merkte, dass Alkohol nie mein Freund gewesen war, er war mein Endgegner.

Mittlerweile bin ich seit über zwei Jahren abstinent. Glücklich abstinent. Ich lebe ein neues Leben.